Begegnung mit dem Höchsten

Es heißt, daß der Mensch hier auf Erden dem Höchsten Absoluten begegnen muß. Sie sagen „Höchsten Absoluten“ um einen Namen zu vermeiden, denn hätten sie Gott einen Namen gegeben, würden jene, die ihm einen anderen gegeben haben, sofort sagen, „Euer Gott ist der falsche, weil Er anders heißt“.

Wie klein ist das Bewußtsein jener, die sich an einen Namen binden und das Große, das ewig Wirkende und Seiende dahinter nicht sehen.

von Werner V. Steindl

Sonntag

Die Schafgeschichten

Diese Schafgeschichten sind für all jene, die den Menschen nicht sagen wollen: "Du bist dein eigener Meister, dein eigener Lehrer und dein eigener Hirte".


Auf einer kleinen Anhöhe saßen sie, der alte Schäfer und ein junger Knabe. Frisch duftete das Gras und die Sonne hatte sich eben über die Hügel erhoben. Sonntag war es, der Tag, den man Gott weiht.

Ruhig und sanft waren die Augen des Alten, als er zu seinem jungen Freund blickte.

"Der Berg heißt Berg und doch heißt er auch Gott; die Bäume heißen Bäume und die Blumen Blumen und doch heißen sie Gott. Wohin immer ich sehe, schaue ich die erleuchtete Liebe Gottes in allen Dingen, sehe seine Schönheit überall. Damit Du in Zukunft weiterhin Deinem klaren Verstand vertraust und Dich nicht verirrst in der Welt und denkst, das Kleine wäre das Große und das Niedrige sei das Hohe, das Stumpfe sei das Wache und Tränen der Weg zum Glück, und damit Dir die Wahrheit nicht ferne bleibt, möchte ich Dir die Geschichte der Hirten und der Schafe erzählen - wie es begonnen hat und wie es enden wird."

Die Schafe sorgten sich um ihre Jungen, die Hirten um ihre Macht.

Die Hirten kleideten sich in lange, prunkvolle Gewänder, und sie sahen aus wie Fürsten und Könige. Gott aber liebt die Schlichten und Einfachen. Die Schafe aber wussten dies nicht.

Wenn ein Hirte mehr wiegt als tausend Schafe, was sind die Schafe wert?

"Die Schafe sind zum Scheren", sagten die Hirten und scherten die Schafe.

Und als ein Schaf zu einer anderen Herde wechselte, wurde es sofort zum Verräterschaf erklärt.
Aber jenes Schaf, das sagte: "Ich bin mein eigener Hirte", wurde ausgegrenzt verlor alle Freunde und das Recht auf Lebensraum.

Nie wollten die Hirten nur Schafe sein, es war für sie nie denkbar.

Oft hetzten die Hirten die Herden gegeneinander auf. Die Schafe bekämpften einander und Schmerz war ohne Ende.
Den Streit der Hirten mussten immer die Schafe austragen. Die Hirten aber gaben ihnen ihren Segen und nannten dies den Willen Gottes.

Schenk mir dein Hab und Gut, und der Himmel ist dir gewiss.
...und es fragten einige Schafe: "Wann gebt ihr weiter, was wir euch gaben - damit auch euch der Himmel gewiss ist?"

Natürlich gab es in der Geschichte der Schafe viele, die die Hirten durchschauten, die revolutionierten und die Macht der Hirten brechen wollten. Sie alle überlebten es nicht.

Viele der Schafe erkannten, dass die Hirten gegen die Schafe handeln, doch sie hatten nicht den Mut aufzubegehren - und so blieb die Herrschaft der Hirten ungebrochen.

Wieso bist du Hirte und ich Schaf?
Das als Hirte verkleidete Schaf sagt: "Ich bin auserwählt, du nicht."

Wenn jeder sein eigener Hirte ist, wo ist da der Diktator?

"Ich habe euren obersten Hirten gesehen, er ist ein verkleidetes Schaf, was bedeutet dies?"
Da sagte das verkleidete Schaf: "Dieses Mysterium verstehst du nicht. Für das gläubige Schaf braucht es keine Erklärung, für das ungläubige Schaf gibt es keine Erklärung."

Wenn ihr uns gehorcht, sagten die Hirten zu den Schafen, dann kommt ihr alle in den Himmel. Und die Schafe glaubten ihnen und gehorchten. Und die Hirten zogen ihnen das Fell über die Ohren.
Da die Schafe einfältig waren und Gott liebten, dachten sie, dies sei gottgefällig und hofften auf den Himmel.

Das Schaf ging an dem Hirten vorbei, verneigte sich tief und zog den Hut. Selten war es umgekehrt.

Wenn die Hirten zusammentrafen, war die Herde immer getrennt von ihnen. Die Hirten achteten sorgsam darauf, dass sich die Schafe nicht unter sie mischen konnten.

Die Hirten lebten von den Schafen und die Schafe dachten, dies sei ihr Schicksal.
Die Hirten scherten die Schafe, aber niemals die Schafe die Hirten.

...und die Hirten wählten sich einen obersten Führer. Blinde Ehrfurcht zog ein in die Herzen der Schafe und sie senkten ihre Köpfe und so wurde es ihnen unmöglich, die Augen zu erheben, und sie konnten nicht sehen, dass sich unter dem Hirtengewand ein ängstliches Schaf verbarg.

Die Hirten taten so, als wäre ihnen der Himmel gewiss, aber im Verborgenen waren sie voll Zweifel, sie hatten selber den Himmel noch nicht berührt.

Ruhm und Ehre den Schafen, denn sie ertragen die Hirten.

Wann immer die Schafe den Mut aufbrachten, von den Hirten Rechtfertigung zu verlangen, behaupteten die Hirten sofort, sie wären dem Bösen verfallen, verbreiteten Angst und Schrecken und streuten Misstrauen und Feindschaft unter sie - äußerst dienlich war dies ihrer Macht.

Es gibt nicht den Wolf im Schafspelz - aber es gibt das Schaf im Hirtenkostüm.

Als sich einmal ein Schaf zum Hirten machte, wurde es einsam.

Da es vielerorts Schafe gab, erhoben sich auch andere zu Hirten und sie gründeten die Macht der Hirten und ihre Entscheidungen dienten der Macht. Sie behaupteten, sie seien die Retter aller Schafe, und da ihnen die Schafe dies glaubten und sich selber als klein und ohne Bedeutung vorkamen, hielt die Macht der Schafe, die sich selber zu Hirten erhoben 2000 Jahre lang.

Doch dann sagten einige Schafe: "Wir sind unsere eigenen Hirten und schützen uns selbst."

Und es wurden mehr und mehr und es begann das Zeitalter der Weisheit - Die Macht der hochmütigen Hirten zerbrach.

Da fragte der junge Schäfer: "Gab es denn keine guten Hirten?"

"Oh ja, es gab große Schafe unter ihnen; die einen wurden verführt, die anderen unterdrückt, die Stärksten aber unter ihnen starben einsam - ihnen wendet sich mein Herz zu, denn sie waren das Licht in der Dunkelheit. "

Jetzt ist die Zeit, da hören die Schafe auf, Schafe zu sein, sie beginnen zu lernen sich selber zu behüten, so wie es bestimmt war am Anfang der Zeit.


von Werner V. Steindl